Nr. 02/20 | 03.06.2020
Harry’s Bar Venedig – Magischer Traditions-Tempel mit Suchtpotential
Die meisten Restaurantführer & Bewerter stürzen sich blind auf jede Neueröffnung, von denen viele schon bald wegen Belanglosigkeit wieder vergessen oder gar geschlossen sind. Aber Restaurants, die ihre Gäste über Jahrzehnte mit einzigartiger Qualität & Tradition begeistern, bilden die wahre Königsklasse. Folgen Sie mir zu solch einem „König“: wir besuchen ARRIGO CIPRIANI und seinen Tempel HARRY’S BAR.
VENI VIDI VENEZIA: HARRY’S BAR
Die rührselige Geschichte ist schon tausendmal erzählt – daher nur ganz kurz: vor ca. 90 Jahren geht dem jungen Amerikaner Harry Pickering in Venedig das Geld aus, er bekommt vom Hotelangestellten Guiseppe Cipriani eine beträchtliche Summe geliehen, kehrt Jahre später als Millionär nach Venedig zurück und eröffnet 1931 aus Dankbarkeit mit Guiseppe Cipriani in der Nähe vom Markusplatz HARRY’S BAR. Bis heute unverändert – bis heute ein magischer Ort!
Sobald Sie durch die beiden schmalen Schwingtüren in den eher niedrigen und relativ kleinen Gastraum treten, wandern alle Augenpaare zu Ihnen – die Gäste, die Ober an den Tischen & die Ober hinter der Bar. Also tragen Sie lieber elegant-legere Kleidung und weder Stadtpläne noch ein Camera-Rohr vorm Bauch. Wenn der Cameriere Sie dann an einen winzigen Tisch geleitet und Ihnen die Getränkekarte huldvoll überreicht hat – bloß nicht wieder aufstehen & gehen (wie einige geschockte Touris immer wieder). So wie Sie abends vor dem Café Florian auf dem Markusplatz 20 Euro nicht für Ihren Espresso, sondern für das Live-Orchester & und die unendlich romantische Atmosphäre zahlen, so sind die knapp 20 Euro für einen kleinen Bellini ein akzeptables Eintrittsgeld für eines der traditionsreichsten & magischsten Lokale der Welt. Und die Wellen des Preisschocks werden mit jedem Bellini immer geringer – glauben Sie mir!
Nun ist es an der Zeit, sich dezent umzuschauen. Sie sehen asiatische, amerikanische & europäische Touristen, die sich mehr oder weniger erfolgreich „cool“ geben. Intellektuelle, die ständig in ein Notizbuch kritzeln. Oligarchen-Familien. A-, B- oder C-Promis. Ja und auch Venezianer, die von den Obern wie liebste Freunde begrüßt & verabschiedet werden. Wenn Sie alle anderen Gäste gescannt haben, lassen Sie Ihre Augen über die sehr einfachen bürgerlichen Holzvertäfelungen & Möbel schweifen. Seit 90 Jahren nahezu unauffällig und unverändert – was für ein Understatement! Und die hohe Zahl an weißlivrierten Kellnern hinter und neben der winzigen Bar erklärt dann auch noch (ein wenig) das hohe Preisniveau der Drinks, die natürlich alle weltklasse gemixt & serviert werden.
Inzwischen senkt sich der frühe Abend auf die Stadt der Träume und Ihre Stimmung steigt mit jedem Bellini, Negroni oder Ferrari Spumante. Was auch steigt, ist Ihr Appetit. Sie fragen nach der Speisekarte – bekommen aber als erstes vom Cameriere eine große Holzscheibe elegant schwungvoll auf Ihren Minitisch gelegt und mit einer blütenweißen Tischdecke verhüllt. Notgedrungen müssen Sie und Ihre Tischnachbarn nun eng zusammenrücken, was zu vielen freundlichen „Good Evening’s“ führt. An sich wollten Sie nur mal schüchtern in die Speisekarte schauen, sind nun aber in der Gäste-Hierarchie nach oben gerückt – „a cena“. Die höchste Kategorie erreichen Sie, wenn Sie zum Dinner reserviert haben und in der ersten Etage Platz nehmen dürfen. Aber nein, bleiben Sie lieber unten – da ist es quirlig lebendig und spannend – oben hingegen lähmt oft die Langweile der Reichen & Superreichen.
Mittlerweile sehen Sie einen kleinen, feinen älteren Herrn mit weißen Haaren in einem nachtblauen Anzug (wenn Sie Glück haben): Arrigo Cipriani, den Sohn des Gründers Giuseppe und mittlerweile auch schon 88. Später am Abend geht Arrigo von Tisch zu Tisch und begrüßt Sie mit seiner einnehmenden Freundlichkeit – gepaart mit seinem berechtigten Stolz auf diese Ikone der Gastronomie.
Die Speisekarte ist nicht zu lang und bietet überwiegend Harry’s bürgerliche Klassiker, die im Lauf von Jahrzehnten immer weiter perfektioniert wurden und heute von Arrigo wie Schätze überwacht werden. Mehr Tradition geht nicht. Damit kommen wir endlich zum „mouthwatering part of the show“.
Als Wein empfehle ich (nicht nur um eine Insolvenz zu vermeiden) eine Halbliter-Karaffe vom frisch gezapften (!) Prosecco. Ich mag an sich keinen Prosecco – aber dieser ist so frisch-fruchtig-süffig, daß er schnell getrunken ist. Als Vorspeise den herrlich marinierten Lachs, das Vitello Tonnato oder die gebackenen Tagliolini mit Schinken. Als Hauptgang Seezungenfilets mit Zucchini? Sensationell. Die Kids nehmen vielleicht einen Club Sandwich oder Sirloin Burger (nein Jungs, Pommes gibt es nicht!). Aber als Krönung die (für mich) unglaubliche, einzigartige TORTA MERINGATA CLASSICA: der fluffige Biskuitteig & die Vanillecreme nicht zu süß, da über dem Ganzen „2 Meter“ weich-klebriger Meringata-Schaum schweben. Soll ich Ihnen etwas ganz Öbszönes verraten: an einem einsamen nasskalten Novemberabend habe ich 3 (in Worten: drei) riesige Meringata verspeist.
Die Zukunft? Mittlerweile gibt es ein luxuriöses internationales Hochglanz-Imperium CIPRIANI, von den Söhnen & Neffen geführt, in dem sich vorwiegend Manager & Models tummeln. Aber Arrigo’s magische Orte sind (für mich) nur HARRY’S BAR nahe Marktplatz & HARRY’S DOLCI auf GIUDECCA (für den Sommer). Hurry to HARRY – solange es seine magischen Orte noch gibt! Und wenn Sie jemanden 3 Meringata verschlingen sehen – it’s probably me.
Fazit: mehr als Bestnote 1 „Eine Reise wert!“ Besuchen Sie das Original, solange es noch unverändert existiert!
Gastro Talk
Das Vergnügen unserer Verwaltungsorgane an kleinkarierten Beschränkungen insbesondere der Rastaurants wird in dieser Pandemie besonders deutlich: plötzlich dürfen sich die Aussenbereiche locker ausbreiten. Gastronomen & Passanten nehmen Rücksicht aufeinander und alle sind zufrieden. Na bitte!
Do’s & Dont’s
Außer in Kantinen & Biergärten gilt: „Wait To Be Seated!“. Zeigen Sie STIL und erlauben Sie dem SERVICE, Sie an einen wirklich freien Tisch zu bitten & zu geleiten. „Noblesse oblige – Niveau verpflichtet“. Ungehobelte Tischeroberer hingegen sollten gleich ihr Revier mit Handtüchern markieren.
Mein „Best Of in Summer in HH“
Bei linder Luft & Sonnenschein – die Jacob-Terrasse muß es sein! Sanft rauscht der Wind durch grüne Linden – mehr Romantik kaum zu finden. Auf der Elbe ziehn die Pötte – der Ober fragt, was ich gern hätte: Spargel, Schnitzel & Sancerre – und hinterher noch etwas mehr. Zum Schluß ein kleiner Hilfeschrei: „Herr Ober, hamse’n Zimmer frei?“. hotel-jacob.de
Vorschau
Die Auswahl meiner Erzählungen von Restaurants & Reisen wird sich immer an meiner Suche nach dem besonderem Genuss orientieren. So gesehen ist mein Blog ein bescheidener Guide zum kleinen Glück. Ich teile gern begeisternde Entdeckungen – aber auch unerwartete Enttäuschungen. Ein verkorkstes Dinner ist für immer verlorene Zeit.
Bewertungen: 1. Eine Reise wert 2. Ein Hochgenuss 3. Hat mir gefallen 4. Mixed Feelings 5. Hat mich enttäuscht 6. Mein „NoGo“

