DER RESTAURANT BLOG
Nr. 04/21 | 15.03.2021
ESSKAPADEN.BLOG
Mit steifer Lippe oder mit Schmäh – vom Hamburger Salon ins Wiener Café
Wie zaubern Meisterköche den intensivsten Geschmack von Rind (oder Huhn oder Fisch)? Sie kochen die relevanten Zutaten stundenlang ein, bis aus acht Litern Suppe ein Liter Rinderfond wurde, der jeder Soße den ganz typischen und intensiven Geschmack verleiht. Hhm! Gibts das auch für Städte? Ja! – Verrückt? Nein! Aber schauen Sie selbst.
STIFF UPPER LIP
Es gibt Städte, zu denen fällt mir partout nichts ein. So wie zum Beispiel Frankfurt (ich Unwürdiger bitte um Vergebung und ein Glas Äppelwoi!). Und es gibt Städte wie London, Paris, München – und eben auch Hamburg, bei denen uns sofort die typischen Attribute in den Sinn kommen: kühl, zurückhaltend, konservativ, fein, höflich, vornehm, stilvoll, elegant, kaufmännisch, wohlhabend, etwas englisch, Herren mit Nackenlocken, Damen mit Perlenketten, … you name it. Und das verdichtet in einer Location – in einem Lokal? Ich gebe zu, ich habe nur e i n e n Ort gefunden, der die Quintessenz hanseatischer Lebensart vermittelt wie ein eingedickter Fond aus allen Hamburger Zutaten:
DIE WOHNHALLE
Sollten Sie liebenswürdigerweise meinem Rat einmal gefolgt sein und im Hotel Elysee logieren (Esskapaden 03/20), dann spazieren Sie 10 Minuten von Ihrem Hotel zum „Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten“ am Neuen Jungfernstieg mit Blick auf die alle Sinne erfrischende Binnenalster. Ich empfehle in diesem Fall als angesagten Zwirn die Kategorie „Smart Casual“, etwas ungenau übersetzt als elegante Freizeitkleidung – eben „Bon pour le Salon“. Sie beantworten das freundliche Salutieren des livrierten Doorman’s mit der höflichen Lässigkeit eines Industrie- oder Hochseekapitäns und biegen in der Lobby links ab. Please wait to be seated! Wer jetzt gleich reinmarschiert und „Herbercht, da iss noch ene Tisch an et Fenster frei!“ ausruft, wird zwar dennoch höflich, aber doch mit einer hochgezogenen Augenbraue gebeten, an dem kleinen Empfangspult zu warten, bis Sie zum Tisch geleitet werden. Da Sie „geleitet“ werden, sollten Sie auch „schreiten“. Können Madame & Monsieur ja mal vorm Spiegel üben. Aber keine Schwellenangst, hier erwartet Sie kein überhebliches Getue – ganz im Gegenteil, ein außerordentlich freundlicher und engagierter Spitzenservice. Nur betreten Sie eben einen einmalig stilvollen und romantischen hanseatischen Salon der Jahrhundertwende. Nur sagt man in Hamburg nicht Salon, sondern Wohnhalle.
Der große und sehr hohe Raum ist komplett altenglisch haselnussbraun bis zur Decke holzgetäfelt und mit einer beeindruckenden Ahnengalerie an antiken Gemälden geschmückt. Die breite Fensterfront lässt das bunte Treiben der Aussenalster herein. Die relativ wenigen Tische stehen weit auseinander, so daß auch Ihr Liebesgeflüster nicht zum Nachbarn dringt. Die Sitzgelegenheiten würde ich eher „Fauteilles“ nennen, also extrem bequeme Sofas & Ohrensessel, aus denen Sie nie mehr aufstehen wollen und auch später schwerlich können. In der Weihnachtszeit steht ein veritables Monument an Christbaum in der Mitte des Raumes – geschmückt mit so vieenl Engeln, Lebkuchen & Päckchen, daß sogar die Windsors neidisch werden könnten (ein Muß mit Kindern!).
Ich empfehle, um 16:00 Uhr zu starten. Beginnen Sie mit einem Glas Champagner. Einfach um stilentsprechend diesen wunderbaren Nachmittag plus zu begrüßen. Dann kann ich den „Himbeerigel“ (wie alles) aus der eigenen formidablen Patisserie zum Kaffee oder Tee empfehlen. Der Service entspringt einer der besten Hotelausbildungen Deutschlands und auch Azubis werden Sie begeistern. Ab und zu fragt Sie der Maitre, ob Sie mit allem glücklich & zufrieden sind. Der Nachmittag vergeht wie im Flug, wenn Sie genug Zeitungen, Gesprächsstoff oder Schweigephasen dabei haben. Jetzt bloß nicht aufstehen! Ja, ganz links der Jahreszeiten-Grill oder das Nikkei Nine im Souterrain sind tolle Restaurants – ganz zu schweigen von dem Gourmettempel Haerlin rechts von der Lobby. Aber – Herrschaften, bitte! – heute ist die Wohnhalle angesagt.
Ich entscheide mich für eine intensive Rinderconsommé gefolgt von meinem Suchtgericht „Roastbeef mit Röstkartoffeln (mit viel Speck & Zwiebeln!) und einem Köpi in eiskalter Aquavit-Begleitung. Als Digestifs stehen 30 Cocktails auf der Karte und 100 in der benachbarten Bar bereit. Am Samstag Nachmittag gehört die Wohnhalle den After-Shopping-Pärchen, die ihre „Tutti Cerrutti Tüten“ wie Trophäen tragen – ja, und am Sonntag führen die guten Söhne Hamburgs Mutti & Vati aus. fairmont.com
Mein Fazit: erneut Bestnote: „Eine Hamburgreise wert!“
CAFÉ SPERL
Ein Grund meiner Rückkehr aus den USA nach Europa war der unglaubliche Kulturspagat, den – anders als Amerika – unser Kontinent zu bieten hat: wie eben der zwischen Hamburg und Wien. Nun will ich hier keine Wienlitanei herunterbeten – ich empfehle einfach einmal die berühmte, 20 Jahre alte Serie „Kottan ermittelt“ (auf DVD) – und zur Steigerung der liebenswerten Skurrilität „Phettberg’s Nette Leit Show“ (auf YouTube, DVD & ORF) anzuschauen. Mehr Wiener Wahnsinn aus Schmäh & Genialität geht kaum. Und niemand lacht über die Wiener – das tun sie schon selbst.
In keiner Stadt der Welt manifestiert sich die Lebensart der Einwohner so sehr in einer eigenen, unverwechselbaren Gastronomie: dem KAFFEEHAUS. Man geht nicht in sein Kaffeehaus – man lebt dort: als Stammgast, von früh bis spät, in glücklichen & melancholischen Momenten, allein oder mit Freunde, nüchtern oder betrunken, verliebt oder gerade entlobt. Und das Kaffeehaus war und ist immer noch ein Ort geistesblitz-geschärfter wie aber auch dusslig-quasselnder Diskussionen um Politik, Kunst, Gott und die Welt. Jedes Wiener Kaffeehaus ist stolz auf „seine“ berühmten oder berüchtigten Künstler als Stammgäste.
Aber Herrschaften, bitte! Meiden sie die Top Ten Touristen Cafés mit den zehnmal pythonlangen Schlangen vorm Eingang. Dort werden Sie schneller wieder abgefertigt, als Sie gewartet haben. Von den mehr als sechszig Kaffeehäusern in Wien kann ich circa zehn empfehlen – aber mein one & only ist das Café Sperl: von 1880, seit 1968 engagiert und liebevoll inhabergeführt von der Familie Staub, in allen Epochen Wohnzimmer vieler Künstler, Journalisten, Kabarettisten & Lebenskünstler. „Dös geht si scho aas!“ Vor dem Sperl müssen Sie sich nicht die Füße platt treten – aber dennoch sollten Sie einen Tisch reservieren: allein/zu zweit am Fenster – zu dritt/viert an der langen Rückfront.
Kommen Sie um 13:00 zum Mittagssnack: vielleicht eine Rindsuppe mit Frittaten & Schinkenfleckerl mit Salat. Danach abwechselnd „dummschwätzen“ und dösen. Am Nachmittag zum Großen Braunen unbedingt den Apfelstrudel mit Schlagobers. Danach etwas Sport & Spiel? Ich empfehle eine Partie Billard. Aber ihren Tisch unbedingt festhalten. Zum Abend das kleine Wiener Schnitzel & der Welsch Riesling. Sollten Sie danach einschlafen und vom liebevollen Service nicht geweckt worden sein: die Auswahl & Qualität des Frühstücks ist so frisch & erfrischend wie die aufgehende Sonne in der Gumpendorfer Straße – nicht weit vom Naschmarkt.
Warum das Sperl mein absoluter Favorit ist? Es ist nicht so überlaufen wie das riesige „Central“, nicht so berühmt wie das intellektuelle „Hawelka“ – es ist einfach die lebendige Quintessenz eines urtypischen Wiener Kaffeehauses für die Wiener Stammgäste (und seligen Reisenden). In dem sehr erschwinglichen Preisniveau drückt sich die ganze Strategie des Café Sperl aus: Wiener Tradition & Spitzenqualität zu sehr erschwinglichen Preisen für Jedermann & jeden Tag. 2019 ist Manfred Staub leider 87-jährig verstorben – seine Frau Monika Staub führt den Betrieb nun weiter. cafesperl.at
Meine Bestnote: „1. Eine Wienreise wert!“
Hamburger Restaurant -Tipps
+ La Bottega: italienisch
+ Nikkei Nine: jap.-peruanisch
+ Brasserie Tortue: französisch
+ Tschebull: österreichisch
+ Fischereihafen-Restaurant
Wiener Restaurant-Tipps
+ Do & Co Albertina
+ Do & Co Stephansplatz
+ Die Meierei im Steirer Eck
+ Meissl & Schadn
+ Mraz & Sohn
ESSKAPADEN ohne Bilder?
„Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte?“ Ja, leider – und lässt keinen Raum mehr für unsere Fantasie! Alles schon zigmal gesehen – nichts mehr übrig, um entdeckt zu werden. Worte lassen Raum.
In der nächsten Ausgabe
Die Lübecker Bucht mit
+ Timmendorfer Strand,
+ Niendorf,
+ Scharbeutz &
+ Schürsdorf
Bewertungen: 1. Eine Reise wert 2. Ein Hochgenuss 3. Hat mir gefallen 4. Mixed Feelings 5. Hat mich enttäuscht 6. Mein „NoGo“